Sea-Eye hat am heutigen 1. Januar 2019 in einem Offenen Brief an die Abgeordneten der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, der Grünen, der FDP und der Linken appelliert, den geretteten Schiffbrüchigen im Mittelmeer zu einem sicheren Hafen zu verhelfen. Hier das Schreiben im Wortlaut:
Sehr geehrte Abgeordnete, Sehr geehrte Damen und Herren,
meine heutige Nachricht hat einen besonderen Grund. Wir wenden uns heute an Sie, weil wir davon überzeugt sind, dass die Mitglieder Ihrer Parteien für die bedingungslose Einhaltung von Grundrechten und die universelle Gültigkeit von Menschenrechten einstehen.
Viele von Ihnen konnten den Medien bereits entnehmen, dass zwei Schiffe, die „Sea-Watch 3“ und die „Professor Albrecht Penck“ mit insgesamt 49 geretteten Menschen vor Malta auf eine politische Antwort warten:
Wer übernimmt jetzt die Verantwortung für diese 49 geflüchteten Menschen?
Unser Schiff, die „Professor Albrecht Penck“, fahren wir unter der Bundesflagge. Neben 17 Geretteten sind 12 Bundesbürgerinnen und Bundesbürger sowie 6 weitere Besatzungsmitglieder aus 5 verschiedenen Nationen an Bord. Sie verbringen den ersten Tag des Jahres in Unklarheit und Unsicherheit an Bord unseres Schiffes. Die Menschen auf der „Sea-Watch 3“ warten nunmehr seit 11 Tagen auf eine Lösung.
Was ist passiert? Gestern schrieb uns ein geflüchteter Junge aus Eritrea. Sein Name ist Efrem. Er erfuhr in den Medien von der Rettung von 17 Menschenleben auf dem Mittelmeer. Er erkundigte sich bei uns, ob sein Bruder Yonas dabei gewesen wäre. Er vermisse ihn seit vielen Monaten. Diese Frage mussten wir voller Bedauern und in tiefer Traurigkeit mit nein beantworten.
Am Samstagabend retteten wir 17 Menschen aus 7 Nationen, 43 Kilometer von der libyschen Küste entfernt, aus einem überladenen Fischerboot. Zwei von ihnen sind minderjährig. Die 24 Jahre alte Mercy aus Nigeria kann keine Frage beantworten, ohne zu weinen. Der 17 Jahre alte Alphayorb berichtet von willkürlicher Verhaftung. Er wurde ohne Begründung zwei Monate lang in Libyen eingesperrt. Andere berichten von Gewalt, von Folter, von Mord und von Menschenhandel. Es ist absurd, darüber zu streiten, ob ein kleines Fischerboot mit 17 Menschen ein Seenotfall war oder nicht. Auch auf der Nordsee hätte man Menschen in so einer Situation keinen Benzinkanister, Medikamente, Lebensmittel und einen Kompass in die Hand gedrückt, um dann in die richtige Himmelsrichtung zu zeigen! Das alles findet jeden Tag statt. Seit Jahren. Auf der anderen Seite des Mittelmeers. An dem Ort, den einige von Ihnen für sicher halten, obgleich Ihnen das Auswärtige Amt keine Dienstreise dorthin genehmigen würde. Es ist zu gefährlich. Übrigens nicht nur für Abgeordnete des Deutschen Bundestags.
Wir bekommen oft Nachrichten von Angehörigen der Geflüchteten. „Wo ist mein Sohn? Wo ist mein Bruder? Für meine Schwägerin wird Lösegeld erpresst. Können Sie mir helfen?“ Wir antworten regelmäßig: „Nein, wir wissen es nicht. Nein, wir können nicht helfen.“
In den vergangenen Stunden bekamen wir auch E-Mails von den Angehörigen unserer eigenen Besatzung. „Ist mein Sohn in Sicherheit? Das Wetter soll schlechter werden. Haben Sie genug Lebensmittel für alle an Bord? Welcher Hafen wird es? Wer kümmert sich darum?“ Wir antworten: „Das Auswärtige Amt arbeitet an einer Lösung. Alle geben ihr Bestes.“
Heute beginnt ein neues Jahr. Jeder und jede von Ihnen entscheidet für sich allein, wie er oder sie sich zur Menschenrechtssituation in Libyen aufstellt, sich zur Kriminalisierung ehrenamtlicher, engagierter Bürgerinnen und Bürger auf dem Mittelmeer äußert und was Sie von Ihren Parteifreundinnen und Parteifreunden einfordern. Uns erfüllt es mit Stolz, dass tausende Bundesbürgerinnen und Bundesbürger bereit waren, selbst viel zu riskieren, um anderen Menschen zu helfen.
Wir wünschen uns Ihre sofortige Unterstützung und Ihre Solidarität, denn eine lebendige Demokratie fürchtet und bekämpft kein ziviles Engagement. Bitte handeln Sie jetzt und zeigen sich verantwortlich, statt über Zuständigkeiten zu streiten und die Verantwortlichkeit woanders zu adressieren.
Wir wünschen uns, dass Sie mehr mit uns reden, statt nur über uns. Wir wünschen uns, dass Sie genauer hinsehen und genauer hinhören, wenn über das Sterben auf dem Mittelmeer berichtet wird. Wir wünschen uns eine Politik, die den Menschen nutzt. In diesem Jahr starben 2241 Menschen auf der Flucht über das zentrale Mittelmeer. Es würde niemandem in Deutschland schlechter gehen, wenn diese Menschen noch leben würden. Doch sie sind alle für immer verloren. Das ist nicht im Sinne unseres Landes.
Wir vertrauen Ihnen. Wir vertrauen und hoffen genau in diesem Moment auf Sie. Bitte helfen Sie unseren beiden Schiffen, bitte helfen Sie den 49 geretteten Menschen sofort, denn das Wetter verschlechtert sich und die Schiffsvorräte sind beinahe aufgebraucht. Deutschland kann auch ohne die Hilfe anderer Länder Verantwortung für 49 Menschen übernehmen. Es gibt viele Menschen in Deutschland, die jetzt helfen wollen. Bitte helfen Sie den 30 deutschen Städten, die dazu bereit sind, jetzt sichere Hafenstadt zu werden.
Bitte arbeiten Sie ab dem ersten Tag dieses neuen Jahres mit uns an einem Europa, das keine Menschen im Mittelmeer ertrinken lässt, um andere von der Flucht abzuschrecken. Bitte setzen Sie ab heute einen menschlichen, politischen Kurs und treten jedem Versuch, die Geschichte und die Gegenwart umzudeuten, geschlossen entgegen.
Von Herzen: Ein frohes, neues und erfolgreiches Jahr!
Mit freundlichen Grüßen
Gorden Isler
Mitglied des Vorstands
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